Unsere Bundesliga, unser Vaterunser

Als Elfriede Eberstein am 21. Dezember 2010 starb, war die Bundesliga 47 Jahre alt. Elfriede war die Frau von Horst. Vermutlich war der HSV für sie ähnlich sinnstiftend wie für ihn, den ehemaligen HSV-Aufsichtsrat. Etwa zwei Strafraumlängen hinter der Westtribüne des Fußballstadions ruhen nun Elfriedes Überreste, auf dem HSV-Friedhof. Wenn Horst stirbt, sollen sie seine Urne daneben legen. Das ist ihm wichtig.

Fußball ist wichtig. In den nächsten Wochen werden deshalb wieder mehr Deutsche in Fußballstadien als in Kirchen pilgern. Wobei das in manchen Städten tatsächlich keinen Unterschied mehr macht – etwa im Stadion von Hertha BSC gibt es eine Kapelle, zum Beten und Heiraten.

Wegen des Andrangs baute sich jeder zweite Bundeligist in den vergangenen zwölf Jahren ein neues Stadion. In der zweiten Liga plant jeder vierte, in der dritten Liga jeder dritte Verein den Neubau. Außer in Nordkorea, Afghanistan, Kuba und Italien wird die Bundesliga zudem in allen 205 Fifa-Mitgliedstaaten im TV gezeigt. ARD, ZDF und Sky können in der neuen Spielzeit mit Rekord-Einschaltquoten in Deutschland rechnen. So gigantisch ist das.

Elfriede Ebersteins Urne ist bisher die einzige auf dem Fußballfriedhof in Hamburg. Vielleicht ist sie nur ein Extrembeispiel. Doch zumindest die Friedhofsbetreiber rechnen mit weiteren HSV-Bestattungen in den nächsten Jahren. Der Profifußball ist hierzulande so beliebt, dass er für einige anstelle einer Religion tritt. Für andere, denen in fast allen Lebensbereichen ein umfassender Glaube abhanden kam, ist er Glaubensersatz. Als Günter Netzer, einer der ersten Helden des kommerzialisierten Fußballs, kürzlich gefragt wurde, was der Bundesliga noch fehlt, sagte er: “Nichts!” Der Fußball sei nun auf dem Höhepunkt angekommen. Er biete alles, Drama, Freude, Leid, Spannung und ziehe alle in seinen Bann. Auch Nicht-Fußballer.

1963, als die Bundesliga erfunden wurde, sah die Begeisterung etwas anders aus. Elfriede Eberstein hätte beim Gedanken an einen HSV-Friedhof damals wohl ihren Mann zum Mond geschossen. Der Fußball war schon damals wichtig, aber es gab noch viele andere einigende Ereignisse. Beispielsweise so Sachen wie die Straßenfeger im Fernsehen.

Als die Mainzelmännchen 1963 erstmals durchs ZDF-Programm liefen, kannte sie fast jeder. Später versammelten sich für die Schwarzwaldklinik fast 30 Millionen Menschen vorm TV. Würde ein Fernsehsender so etwas wie Wetten Dass? oder Dalli Dalli oder die Mainzelmännchen heute noch mal erfinden, es wär’ fast umsonst. Weil es inzwischen neben dem ZDF Dutzende andere Fernsehsender, Websites, Zeitungen und unzählige andere Trickfiguren gibt. Der Bundesliga kann das nicht passieren. Sie ist konkurrenzlos.

Wer am Wochenende nicht mitbekommen will, das der BVB, der FCB oder der HSV kicken, muss mit geschlossenen Augen und zugehaltenen Ohren durch die Öffentlichkeit laufen. Egal, ob im Stadion, vorm TV, Computer oder auf der Straße: Zum Beginn ihrer Jubiläumssaison ist die Bundesliga das gemeinstiftende Kulturgut dieser Gesellschaft. Das liegt an der Bundesliga selbst und am Wandel einer Gesellschaft, die den Fußball liebt und braucht.

Unsere Demokratie verlange “kulturelle Zonen der außerdemokratischen Wildheit”, weil sie selbst für wenig Ekstase sorgt, hat Hartmut Böhme einmal formuliert. Der Professor für Kulturtheorie an der Berliner Humboldt-Universität meinte Orte, an denen viele Menschen gemeinsam ihren Erlebnishunger stillen, in deren “Resonanzraum” die Kollektivkörper “eine gewaltige Rückkoppelung erfahren”, in denen das heilige Spektakel um Kampf, Sieg, Untergang tobt. Fußballspiele, im Stadion oder im TV, erfüllen genau diese Funktion.

Daraus resultiert ein anderer Grund für die Vormachtstellung des Sports: das Geld. Allein die neuen TV-Vermarktungsrechte sichern den Bundesligisten von 2013 bis 2017 etwa eineinhalb mal so hohe Einnahmen wir in den vergangenen Jahren, jährlich 632 Millionen Euro. Und es wird wohl noch mehr werden.

Interessant ist dieser Wahnsinn allemal. Fußball ist ja an sich eine unnütze Tätigkeit, so wie jeder Sport oder wie Literatur, Malerei, Gesang. Die Bundesliga dient der Unterhaltung, sie erschafft kein neues Produkt und ist doch wirtschaftlich extrem wertvoll. Kein anderes Kulturgut war im vergangenen halben Jahrzehnt erfolgreicher als der Fußball.

Das Geschäft scheint zukunftssicher, vor allem, weil das zu befriedigende Bedürfnis bleiben wird. Eine Gesellschaft, die immer individueller, fragmentierter, spezieller wird, braucht Momente des Zusammenhalts. Die Menschen brauchen einen kleinsten gemeinsamen Nenner, etwas Gemeinstiftendes, das als Dialogthema in jedem Aufzug, an jeder Tankstelle oder auf dem Friedhof funktioniert.

Zuhause bei Horst Eberstein soll in seiner Wohnung in Hamburg hinter der Türschwelle jahrelang eine Fußmatte mit HSV-Logo gelegen haben. Elfriede hatte sie ihrem Mann geknüpft und geschenkt. Warum eigentlich ausgerechnet der Fußball, wurde Horst bei einem runden Geburtstag mal gefragt. Weil er die HSV-Raute im Herzen trage, lautete seine Antwort.

Was will man daraus schlussfolgern? Verallgemeinert kann man die Sinnfrage kaum beantworten. Oder hat schon jemand einen Gottesbeweis erbracht?

(veröffentlicht auf ZEIT ONLINE)

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