Depressionen: Mal nicht an Selbstmord denken, Zelt aufbauen

Teilnehmer der Mood-Tour beim ZeltenTeilnehmer der Mood-Tour beim Zelten © Sebastian Burger

 

Welch eine Bühne für die größte deutsche Krankenkasse, nein, für die Gesundheitskasse. Der Chef der AOK Nordost steht vor seinem Mikro direkt vor dem Brandenburger Tor. Die Spätsommersonne leuchtet. Tausende begeisterte Zuhörer: Radfahrer, Spaziergänger, Journalisten, Touristen. Selbst Robert Enke schaut von einem der vielen Plakate. Alle sind gekommen. Alle hören zu. Alle reden über Depressionen. So war’s geplant. Doch es kam irgendwie anders.

Am vergangenen Samstag waren etliche Straßen in Berlin gesperrt. Die Polizei hatte mit mehr als Tausend Radfahrern gerechnet, die die letzte Etappe der ersten Mood-Tour begleiten wollen. Sie sollten gemeinsam von Potsdam bis zum Brandenburger Tor fahren und demonstrieren. Mood-Tour, das ist so etwas wie die Tour de France der Depressiven, eine Radtour gegen Stigmatisierung. 4.500 Kilometer in 7 Etappen quer durch Deutschland, krönendes Ziel: Berlin. Aber tatsächlich waren nicht mehr als 70 Radfahrer mit dabei.

Sebastian Burger hatte im Januar 2007 die Idee zur Mood-Tour. Damals hatte er keinen Antrieb mehr. Er nennt das, was ihm die Lust nahm “Winter-Blues”, will seine Erfahrung nicht mit einer lebensbedrohlichen Depressionskrankheit vergleichen. Burgers Professor empfahl dem Studenten Bewegung. Der nahm ein Zelt und wanderte los, am ersten Weihnachtsfeiertag, alleine immer die Weser entlang. Das tägliche Laufen, die winterfrische Nordseeluft verdrängten die Zweifel. Am 31. Dezember 2006, seinem 26. Geburtstag, habe er wie ein Penner ausgesehen, unrasiert mit Rucksack, sagt Burger. Aber jeder Schritt half den “Winter-Blues” zu verdrängen. Er war in Bewegung.

Mit türkisfarbenem Mood-Tour-Shirt, Abenteuerbart und orangener Radlerhose steht Burger nun vor dem Brandenburger Tor. Jede Etappe ist der Erfinder und Organisator mitgeradelt. Fast jeden der vergangenen 90 Tage saß er auf einem seiner Tandems. Den drei Dutzend Zuhörern erzählt er jetzt, wie es war, nach jedem Mood-Tour-Tag mit der Gruppe einen Ort zum Übernachten oder Zelten zu finden, dass er viel gelacht habe, und dass er von den depressionserfahrenen Mitfahrern viel über die Krankheit gelernt habe. Burger hält eine optimistische Rede, aber er ist enttäuscht.

Bei vielen Stiftungen, Verbänden, Krankenkassen hat Burger in den zwei Jahren vor dem Start für seine Tour geworben. Er hat von dem einen Ziel – der Herausforderung für die Teilnehmer – erzählt und vom anderen – Aufmerksamkeit für einen offeneren Umgang mit der Volkskrankheit – geschwärmt. Es war ein langes Hin- und Her. Am Ende beteiligten sich die Gesundheitskasse und die Robert-Enke-Stiftung als Hauptsponsoren, drei weitere Geldgeber und sieben Unterstützer mit insgesamt mehr als 50.000 Euro. Für ein bundesweites Dreimonatsevent ist das nicht viel. Doch Burger versprach den Sponsoren für ihren Einsatz “blühende Presselandschaften”.

Vor Jahren war Burger einmal mit Tandems von Deutschland nach Singapur gefahren. Danach hatte er eine Tandem-Tour durch Südamerika für Blinde organisiert. Über beide Veranstaltungen hatten deutsche Medien berichtet. “Das waren Geschichten”, sagt Burger. Er dachte, wenn die Depression so viele befällt, müsste ein Ereignis wie die Mood-Tour ebenso viele interessieren.

In Deutschland sind aktuell vier bis sechs Millionen Menschen an einer Depression erkrankt. Auch Freunde und Familienmitglieder Betroffener leiden darunter. Laut WHO wird die Depression spätestens in zwanzig Jahren die Volkskrankheit Nummer eins in den Industrienationen sein. Burger befürchtete, es würden sich viel mehr Leute bewerben als Startplätze für die Mood-Tour vorhanden waren. Er dachte, die Mood-Tour könne zu einer Tour der France werden, bei der es nicht ums Gewinnen geht. Zumindest hoffte er, dass überregionale Medien über die Tour und die Krankheit berichten würden.

Es meldeten sich jedoch gerade genug Erkrankte, um alle sieben Etappen wie geplant durchzufahren. Thema in einem überregionalen Online-, TV-, Radio- oder Printmedium war die Mood-Tour nicht.

Vielleicht liegt auch das an den Berührungsängsten. Die Depression ist von allen Krankheiten eine der unverständlichsten. Sie erscheint in unzähligen Varianten, ist nicht zu fassen, schwer zu messen und vor allem ist es nicht leicht, über sie zu reden.

Irina und Bea wissen das. Sie sind die letzte Etappe der Mood-Tour von Köln nach Berlin mitgefahren und haben sich manchmal gewundert. Sie erzählen von einem Hausmeister, der so grimmig schaute wie schlecht gelaunte Hausmeister schauen. Sie fragten ihn, ob er die Tür zur Turnhalle, in der sie schlafen durften, öffnen kann. Er zuckte nur abweisend und öffnete. Erst als sie ihm von ihren Erfahrungen mit der Depression erzählt hatten, änderte sich seine Haltung. Plötzlich erzählte er von seinem Leid, auch seine Frau litt unter Depressionen.

Eine Radfahrerin, die wegen der Krankheit nicht wusste, ob sie überhaupt mitfahren könne, sagte nach einem Tag auf dem Tandem, jetzt habe sie wenigstens mal andere Sorgen als Zuhause: Mal nicht an Selbstmord denken, sondern irgendwie ein Zelt aufbauen.

Während einer Veranstaltung im mecklenburgischen Güstrow meldete sich ein Besucher. Er sagte, er leite einen Einkaufsmarkt mit etwa 80 Angestellten. Es komme ab und an vor, dass Mitarbeiter in seinem Büro erzählen, dass sie an Depressionen leiden. Die Leute weinen dann, und er wisse auch nicht mehr weiter. Weil dann bereits alles zu spät sei.

Psychische Erkrankungen, die Depression vorneweg, kosten jährlich viele Milliarden Euro. Auch weil Betroffene oft gar nicht oder zu spät ein Gespräch mit Ärzten und dem Arbeitgeber suchen. Keine andere Krankheit lässt Arbeitnehmer länger im Betrieb fehlen, keine andere lässt die Zahl der Frühverrentungen schneller ansteigen.

“Allein in den Ländern Berlin und Brandenburg ist die Anzahl der Erkrankten innerhalb von zwei Jahren um 23,5 Prozent gestiegen”, sagt der Mann, der nun nach Sebastian Burger die ein mal ein Meter kleine Bühne vor dem Brandenburger Tor betreten hat.

Es ist nicht der Chef der AOK Nordost, sondern sein Stellvertreter, der ihn entschuldigt und die Chef-Rede vorliest. Der grauhaarige Mann steht vor dem Mikro. Die Spätsommersonne wird von einer Regenwolke verdrängt, als er sagt, dass in Deutschland “noch immer zu viele Menschen zu wenig über diese Volkskrankheit wissen”. Ein Passant, der scheinbar zufällig vorbeigekommen ist, bleibt stehen. Er hört ganz kurz zu. “Naja”, brummt er in seinen Bart und geht weiter.

(Veröffentlicht auf ZEIT ONLINE)

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