In einer Zeit der Zielvereinbarungen bleibt Fußball unvorhersehbar

Im letzten Pflichtspiel des Jahres hat die Nationalelf gegen Schweden gezaubert, brilliert, imponiert, fasziniert – die erste Stunde lang. Irre. Dann hat das Team es vergeigt, enttäuscht und alles vermasselt. Irre. Ein Fußballspiel wie ein Ikea-Schrank: Erst sah’s so leicht aus, und am Ende passte gar nichts mehr. Alter Schwede! Was war da los?

Fußballer sprechen nach solchen Begegnungen oft von komischen Dingen. “Wir haben keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen.” “Da war der Wurm drin.” “Wir konnten den Schalter nicht umlegen!” “Da steckt man nicht drin!” “Es war wie verhext!” Manchmal heißt es auch: “Das ist Fußball!” Oder dieser Typ, einer, der mehr versteht, hätte sich eingemischt: Der Fußballgott sei Schuld.

In gewisser Weise stimmt die göttliche Erklärung. Wer den Zufall meint, kann ihn auch allmächtiges Schicksal oder Wurm nennen. Das 4:4 der deutschen Elf war ein Paradebeispiel fürs Zufällige, Glückliche im Fußball, besonders in der letzten halben Stunde des Spiels. In dieser Zeit wandelten die Schweden den Rückstand in ein Remis. Vier Mal schossen sie in 33 Minuten aufs Tor, vier Mal erzielten sie ein Tor. Einmal hatte der deutsche Torwart einen Blackout, einmal übersah der Schiedsrichter ein Foul. Wenn man lange Flanken aus dem Halbfeld nicht zählt, war genau eines der vier Tore herausgespielt. Kroos traf dagegen den Pfosten, und die Deutschen hatten Pech.

60 Minuten lang führte die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen Schweden, teilweise mit vier Toren Vorsprung. In der letzten halben Stunde verschenkten sie alles. Mannschaft und Trainer Joachim Löw sind ratlos. [Video kommentieren]

Diese Schlussfolgerung klingt zu einfach, um wahr zu sein. Ist sie aber. Fußball ist zum Teil ein Glücksspiel. Oft gewinnt die bessere Mannschaft, manchmal nicht.

Den Unterschied zwischen glücklichem und gekonntem Spiel hat die Schweden-Partie offenbart. In den ersten 60 Minuten zeigten die Deutschen ihre Fähigkeiten, kombinierten den Ball ins Tor, danach schossen die Schweden glücklich den Ausgleich. Die Ironie des Ganzen: Im Spiel gegen Irland vor vier Tagen war das Glück noch auf der deutschen Seite, fast jeder Schuss war ein Treffer, die Jubelei danach groß. Das ist Fußball. Kein Trainer, kein Team kann den Zufall eliminieren. Gerade deshalb fasziniert das Spiel Milliarden Menschen weltweit. Trotz Mentalcoaches, Taktikvideos, Ernährungsplänen: In einer Zeit der Kostenvoranschläge, Hochrechnungen, Analysen, Zielvereinbarungen bleibt der Fußball unvorhersehbar.

Diesen Aspekt des hochprofessionalisierten Spiels vergessen viele Experten gerne. Wer das Zufällige zugibt, kann es nicht mehr selbst erklären. Natürlich wäre eine solche Einsicht für einen wie Oliver Kahn, den Titan unter den TV-Fußballexperten, eine Bankrotterklärung. Und Menschen wie Kahn, Besser- und Alleswisser, gibt es viele. Deshalb geht es jetzt wieder los.

An allen Stammtischecken wird nun fachgesimpelt und durchdiskutiert. Kann Joachim Löw noch Bundestrainer? Fehlt dem deutschen Team der Führungsspieler?

“Die Krise ist da in der deutschen Auswahl”, schreibt die SZ wenige Stunden nachdem die Nationalelf die vielleicht spielerisch anspruchsvollsten 60 Minuten der vergangenen Jahre gezeigt hat und ungeschlagen die WM-Qualifikationsgruppe anführt.

Die Krise ist also da. Aha. Dann wird sie auch ihre Kreise ziehen. Der Manager, Oliver Bierhoff, hat schon mal öffentlichkeitswirksam etwas angekündigt. Die Wurstfabrikanten, Ex-Trainer oder Ex-Tennisspieler kommentieren das sicher bald, öffentlichkeitswirksam. Denn so eine Pseudo-Debatte hat ja einen Sinn. In vier Wochen gibt es noch ein Länderspiel. Holland gegen Deutschland. Ein Freundschaftsspiel. Nein. Nach dem “historischen Drama ums deutsche Team” (Express) und dem nun folgenden Rumkritisiere wird das allerletzte Spiel des Jahres viel mehr sein müssen. Joachim Löw wird womöglich Hilfe von ganz oben brauchen. Aha. Das wird irre. Das ist Fußball.

(Veröffentlicht auf ZEIT ONLINE)

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