Eine Krankheit stellt den Football infrage

Er geht runter zum Strand, surfen. Sie fährt ins Fitnessstudio. So sieht ihr Alltag häufig aus. Junior Seau und seine Freundin leben in Oceanside, Kalifornien. Oceanside ist eine Stadt, die hält, was ihr Name verspricht. Das Haus des dreifachen Vaters gleicht einer Villa. Als seine Freundin an diesem Mittwochvormittag vom Fitnessstudio zurückkommt, betritt sie den Flur und geht weiter ins Schlafzimmer. Die Pistole liegt neben ihrem Freund. Er hat sich in die Brust geschossen. Weil er die Qualen seiner Krankheit nicht mehr ausgehalten hat, einer Krankheit, die ihm unbekannt war.

Junior Seau, ein Held in den USA, jahrelang einer der besten Footballer der NFL, wurde 43 Jahre alt. Für die San Diego Chargers, Miami Dolphins und New England Patriots lief er als Verteidiger auf. Mit seinem leidenschaftlichen Einsatz konnte er das Spiel zerstören. Mehrmals wurde er zum Defensivspieler der Saison gewählt. Als Seau sich an diesem Mittwochvormittag im Mai vergangenen Jahres umbrachte, schockierte er Millionen Fans. Nun, seit die Ursache für Seans Tod analysiert ist, und am Sonntag das Finale des diesjährigen Super Bowls ansteht, debattiert eine Sport-Nation. Denn wie Seau erging es in den vergangenen Monaten einigen ehemaligen NFL-Profis. Sie beendeten ihr Leben, weil sie an Chronic Traumatic Encephalopathy, kurz CTE, litten. Die Football-Stars starben wegen des Footballspiels.

CTE ist eine neue Krankheit, die noch nicht vollends erforscht ist. Doch sie könnte die NFL, die lukrativste Sportliga der Welt, grundlegend ändern. “CTE ist vereinfacht ausgedrückt eine Hirnfunktionsstörung. Man spricht auch vom Boxersyndrom”, sagt Joachim Latsch, Oberarzt an der Deutschen Sporthochschule Köln. Wer über Jahre hinweg leichte oder schwere Gehirnerschütterungen erleide, habe ein höheres CTE-Risiko. Die Krankheit werde durch “häufige mechanische Beeinflussung des Gehirns” verursacht. Ihre Symptome sind Koordinationsstörungen, Demenz, Zittern und Depressionen, die wie bei Seau zum Tode führen können.

Die erste CTE-Erkrankung eines ehemaligen Footballers diagnostizierten Ärzte vor sieben Jahren. Dutzende folgten. 2009 gab es im US-Kongress eine Anhörung zu den gesundheitlichen Risiken, die durch die Kopfverletzungen in der NFL entstehen. Resultate der bisherigen Debatte: Die NFL spendete 30 Millionen Dollar an das Nationale Gesundheitsinstitut zur Erforschung von CTE. Seit zwei Jahren gibt es eine neue Regel, die verhindern soll, das Köpfe zusammenprallen. Verteidiger, die ihren Helm dennoch als Waffe nutzen, sollen mit einem Raumverlust für ihr Team bestraft werden. So die offizielle Regel. In der Realität erhielten Spieler, die ihre Gegner folgenreich verletzten, noch 2010 mannschaftsinterne Belohnungen. Gewalt ist elementarer Bestandteil des Footballs.

Tausende ehemalige Footballer und Hinterbliebene von verstorbenen NFL-Profis haben die Liga in den vergangenen Monaten auf Schadensersatz verklagt. Auch Seaus Familie hat Ende Januar Anklage beim California Superior Court erhoben, gegen die NFL und den Helmhersteller Riddell. Die Liga, die jedes Jahr etwa 10 Milliarden Dollar umsetzt, habe die Gefahren von Hirnschädigungen absichtlich ignoriert und ihre Spieler nicht gewarnt, so die Anwälte. Die Mutter von Seaus Kindern sagt: “Die NFL muss sich um ihre ehemaligen Spieler kümmern. Und sie muss dafür sorgen, dass das Spiel für künftige Generationen sicherer wird”.

Ein Befürworter dieser Forderung ist Barack Obama. Bevor sich am 3. Februar im Superdome zu New Orleans die San Francisco 49ers und die Baltimore Ravens duellieren, und Millionen US-Amerikaner vor den Fernsehern mitfiebern, schaltete sich der Präsident in die Debatte ein. Obama sagte, sofern er einen Sohn hätte, würde er “lange und intensiv darüber nachdenken”, ob er ihn zum Footballspielen schicken würde.

Anders sieht das eine Gruppe mutiger, muskelbepackter Männer. Zum Beispiel Bernhard Pollard, gefürchteter Verteidiger der Baltimore Ravens. Der 28-Jährige fragte nach dem Tod Seaus: “Was machen wir hier?” Und antwortete: “Wir spielen Football! Also haben wir Gehirnerschütterungen und gebrochene Knochen. Jeder Spieler weiß das. Ihr könnt mir einen noch größeren Helm aufsetzen, das Resultat wird das gleiche sein!”

Pollard und viele andere aktuelle Spieler fürchten, dass sich wegen der CTE-Erkrankung ihr Spiel verändern könnte. Sie haben Angst, dass der Mythos Football an Bedeutung verliert. Regelverschärfungen würden den Charakter des Spiels zerstören, sagt Pollard voraus, die Zuschauer würden sich abwenden. In 30 Jahren werde “die NFL nicht mehr existieren”.

Wie die Zukunft des Footballs aussieht, könnte von den Medizinern in den USA abhängen. Bisher konnte CTE erst nach dem Tod diagnostiziert werden, vor allem bei Footballspielern, einigen Wrestlern und Eishockeyspielern. Doch die CTE-Experten arbeiten daran, die Symptome der Krankheit frühzeitig zu erkennen. Wenn es irgendwann möglich wäre, mit einer Art Computer-Tomographie die Gehirne von aktiven Spielern auf CTE zu untersuchen, könnte das das Spiel tatsächlich verändern.

“Einen CTE-Warnwert gibt es noch nicht,” sagt Joachim Latsch von der Deutschen Sporthochschule Köln. “Aber sollte das gelingen, wären drastische Regeländerungen denkbar.” Sollte es soweit kommen, wäre das auch ein Verdienst von Dave Duerson, eines Kollegen von Junior Seau.

Duerson hatte als Verteidiger zwei Mal den Super Bowl gewonnen. Für einige war er ein größerer Held als Seau. Etwa ein Jahr bevor sich dieser in Oceanside umbrachte, hatte Duerson sich in Sunny Isles Beach, Florida ins Herz geschossen. Sein Kopf blieb unversehrt. Zuvor hatte Duerson eine SMS verschickt. Er bat darin, Ärzte sollten seinen Kopf auf CTE untersuchen.

(Veröffentlicht auf ZEIT ONLINE)

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