Am Dienstag vergangener Woche wäre Maria eigentlich gerne mit zur Beerdigung gegangen. Sie kannte die Verstorbene, es war eine Nachbarin, eine gute Bekannte, und zum Friedhof sind es nur 300 Meter. Maria blieb wegen der Beine dann lieber zu Hause. Sie kann nicht mehr richtig laufen. Ihre Hüfte und Oberschenkel schmerzen seit Jahren bei jedem Schritt. Wenn sie geht, stützt sie sich auf ihren Stock. Manchmal schafft es die 71-Jährige so auf die andere Seite der Straße zum Haus ihres Bruders Nikolei oder etwas weiter die Straße runter, die nach Anatoliy Kurkchy, einem sowjetischen General benannt ist. Am Tag der Beerdigung setzte sich Maria also lieber auf die Bank vor ihrem Haus und schaute der Zeremonie aus der Ferne zu, bis um 14:22 Uhr, als das begann, wofür Maria keine passenden Worte findet.
“Bei einem Raketentreffer sind nach Angaben der OSZE in der Ostukraine sieben Zivilisten nahe Mariupol getötet worden. Wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Mittwoch berichtete, schlug die Rakete in einem kleinen Dorf nahe der Stadt ein.”
So klingt im Nachrichtendeutsch der dpa, was Maria nicht beschreiben kann. Es war keine große Meldung, nur drei deutsche Zeitungen veröffentlichten sie; seit Monaten sterben Menschen in diesem Krieg.
Sartana, der Vorort Mariupols im Südosten des Landes, liegt fast genau zwischen den Fronten. Westlich vom Friedhof hat die ukrainische Armee eine Panzer-Einheit und mehrere Checkpoints, östlich vom Friedhof beginnt die Volksrepublik Donezk. So nennen die Separatisten das von ihnen besetzte Gebiet. Vom Zentrum in Sartana bis zur offiziellen russischen Grenze sind es 45 Kilometer, bis zur Frontlinie 1.500 Meter.
Man habe das Donnern der Geschütze immer gehört, aber man habe sich auf sonderbare Weise daran gewöhnt, sagt Maria. Bis zum Tag der Beerdigung sei es ein friedliches Leben in Satana gewesen.
Die mehr als hundert Teilnehmer der Beisetzungszeremonie wollten den Friedhof gerade verlassen, als die Raketen einschlugen, direkt neben der Menschenmenge. Abgefeuert wurden sie wohl von einem BM-21-Kampffahrzeug. BM-21 ist ein in der Sowjetunion entwickeltes Mehrfach-Raketenwerfer-System, oft wird es auch Grad genannt, Hagel auf Deutsch, weil die 40 Raketen einer Salve innerhalb von 20 Sekunden auf die Erde treffen und explodieren.
Nach dem ersten Einschlag sah Maria hinter dem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite Rauch aufsteigen. Sie wollte Richtung Friedhof laufen, nach ihrem Sohn sehen, der bei der Beisetzung dabei gewesen war, doch nach dem dritten und vierten Raketeneinschlag flogen ihr Menschenfetzen entgegen, ihr Wohnzimmerfenster zersplitterte, an ihrem Grundstückszaun klebte Blut, ein Bein landete auf dem Dach. An ihrem Krückstock ging sie zurück ins Haus, legte sich in die Küche und verlor die Besinnung.
“Wenn es dein Schicksal ist, im Feuer zu sterben, wirst du nicht ertrinken”, sagt Stephan Maxma. Es ist ein altes russisches Sprichwort, das der Bürgermeister Sartanas zitiert, wenn man ihn nach der Zukunft seines Dorfes fragt. Am Tag des bisher größten Unglücks stand er auf der anderen Seite des Ortes und begutachtete die neue Straßenbeleuchtung. Als er nach einem Anruf zum Friedhof fuhr und das Chaos sah, musste er sich einen langen Augenblick abwenden, um nicht die Fassung zu verlieren.
Maxma ist seit vier Jahren Bürgermeister. Hinter seinem Schreibtisch, fast am gleichen Ort, wo vor einem Jahr noch ein Foto vom damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch hing, stehen jetzt drei kleine EU-Fahnen. Er sagt, er bleibe Mitglied der prorussischen Partei der Regionen, bis sie sich offiziell auflöst und in einer anderen Partei aufgeht. Vor dem kleinen Rathaus, an der Außenwand seines Büros, weht eine ukrainische Fahne. Wie lange die dort noch hängt, weißt der 36-Jährige nicht.
Sartana gehörte wie Mariupol zur Ukraine, im Mai einige Wochen zur Volksrepublik Donezk und dann wieder zur Ukraine. Im Mai schloss Maxma an manchen Tagen abends sein Büro ab und schaute dabei auf eine ukrainische Fahne. Am nächsten Morgen kam er zur Arbeit und sah eine russische Flagge am Rathaus hängen. Nächtelang seien Aktivisten die Rathauswand hinaufgeklettert, mal die einen, mal die anderen, um ihr Symbol zu platzieren. Jetzt habe die ukrainische Armee die Gegend unter Kontrolle, sagt der Bürgermeister. Wie es weitergehen soll, kann weder er noch ein anderer Politiker aus der Gegend sagen.
In Mariupol, etwa 15 Kilometer südwestlich von Sartana, haben die vergangenen Monate Spuren im Stadtbild hinterlassen. Jede Zufahrt zur 450.000-Einwohner-Hafenstadt am Asowschen Meer wird von meterhohen Straßensperren, Panzern und Soldaten blockiert. Im Flughafen, von dem seit Jahren keine Maschine mehr abgehoben ist, haben die ukrainische Armee und das umstrittene Asow-Bataillon, in dem auch Neonazis kämpfen sollen, ihr Hauptquartier eingerichtet. Andere freiwillige Kämpfer für die Ukraine, etwa das Kirowograd-Bataillon, haben sich im Zentrum in den Umkleiden für den Stadtstrand niedergelassen.
Die Straßenbahn, der man ansieht, dass sie einige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurde, fährt wieder jeden Tag. Strom- und Gas fließt mit wenigen Unterbrechungen in die Wohnungen. Die meisten Geschäfte und die beliebtesten Nachtclubs wie das Zebra und der Egoist haben geöffnet. Aber vor jeder Eisenbahnbrücke wachen Tag und Nacht Soldaten, da sie eine Sprengung befürchten. Ab und an fahren mit Soldaten beladene Lastwagen oder Panzer mit aufgemaltem Ferrari-Zeichen durch die Innenstadt. Und die Brücke über den Kalmius, die den westlichen vom östlichen Teil Mariupols trennt, ist vermint. Sollten die prorussischen Kämpfer von Osten kommend angreifen, soll sie gesprengt und zum Schutzwall werden.
Wenn er das Wort Waffenstillstand hört, muss Andrij lachen. Der Koordinierungssoldat ist aus dem nördlichen Charkiw nach Mariupol gekommen. In seiner Tasche trägt er einen Splitter einer Grad-Rakete. Das Teil explodierte einige Meter neben ihm, seitdem ist es sein Glücksbringer. Andrijs Meinung nach halten sich die Separatisten an keine Abmachung, manchmal beschießen sie sich gegenseitig. Andrijs Meinung nach kämpfen im Asow-Bataillon viele patriotische, aber keine rechtsextremen Ukrainer. Und Andrijs Meinung nach unterstützen die Bürger Mariupols mehrheitlich die ukrainische Armee.
Überprüfen kann all das niemand in diesen Kriegstagen. Ein Mitarbeiter der OSZE schätzt, 60 Prozent der Bevölkerung stünden auf der Seite des ukrainischen Präsidenten Pedro Poroschenko. Maxma, der Bürgermeister Sartanas, äußert sich zu dieser Frage gar nicht, wieder andere glauben, die Mariupoler seien genau gespalten, ein Teil proukrainisch, der andere prorussisch.
Maria hat Tee gekocht. Ihr Bruder Nikolei und das Paar von gegenüber, Diana und Murmant, sitzen in ihrer Stube. Sie spricht von ihrem Sohn, der halb taub noch im Krankenhaus liegt. Der Bürgermeister, die OSZE und alle Soldaten, die nach dem Grad-Einschlag am vergangenen Dienstag die Verletzten versorgt haben, sagen, die Raketen seien von Osten gekommen. Diana und Murmant zweifeln daran. Die beiden besitzen das Haus schräg gegenüber, dort verkaufen sie vor ihrem Fenster Grabsteine für den Friedhof. Am Unglückstag waren sie nicht in Sartana. Den Krater, der vor ihrem Eingang entstand, und die Leichenteile auf dem Dach ihres Hauses sahen sie erst am Tag ihrer Rückkehr.
Diana und Murmant sagen, 90 Prozent aller Bürger Sartanas hätten damals im Mai, als die russische Fahne am Rathaus wehte, für die prorussischen Machthaber gestimmt. Sie hätten auch teilgenommen am selbst organisierten Referendum. Es sei ein Freudenstag gewesen, sagen sie. Jetzt befürchten sie, zur Marionette der USA zu werden.
Wenn am Sonntag das neue Parlament der Ukraine gewählt wird, werden auch Diana und Murmant ihre Stimme abgeben. In Sartana und Mariupol finden die Wahlen statt, aber ohne Kontrolle durch internationale Beobachter. Wegen des Krieges haben die Organisationen keine Zeugen in das Gebiet Donezk geschickt.
Maria schüttelt den Kopf und stützt sich auf ihren Krückstock. Ihr sei es egal, wer im Parlament sitze, sagt sie. Bis ins Wahllokal werde sie es eh nicht schaffen. Die Beine schmerzen.
Erschienen auf ZEIT ONLINE