Julien Castillan rennt vor seinem Hotel über die Straße. Er will seinem Sohn das Fahrradfahren beibringen. Der kleine Adrian schafft ein paar Meter. Oma und Opa stehen am Straßenrand und applaudieren. Familie ist den Castillans wichtig, Radfahren auch. Sie führen ihr Hotel in L’Alpe d’Huez als Familienbetrieb. Meist bleibt dabei viel Zeit füreinander. Nur an einem Tag im Sommer kann sich niemand um Adrian kümmern. Immer, wenn die Tour kommt.
In den Wochen vor und nach dem Radrennen grasen Kühe neben der Dorfstraße in L’Alpe d’Huez. Wenn es soweit ist, stehen auf diesen Wiesen Japaner, Holländer und Mexikaner. Einige schlafen im Hotel, viele im Wohnmobil, die meisten zelten. Alle warten. Diese Mauer aus erregten Menschen sei das fabelhafteste Bild seiner Karriere, sagte der französische Radfahrer Sébastien Joly einmal. Da war er gerade als Allerletzter ins Etappenziel L’Alpe d’Huez gerollt.
Wohl kein Ort der Welt verdankt seinen Charakter so sehr einem Sportereignis wie L’Alpe d’Huez der Tour. Julien hat seit 30 Jahren von seinem Vater gelernt, das Hotel zu führen. Jene, die zum Feiern, Anfeuern, Tanzen in sein Bergdorf kommen, bezeichnet er als »ein wenig verrückt«. Es sind mehrere Hunderttausend, die auf etwa 1.000 Einheimische treffen.
Zu Julien kam die Tour erstmals, als er ein Jahr alt war. Michel Pollentier hatte gerade die Etappe nach L’Alpe d’Huez gewonnen und sich im Ziel die Mütze vom Kopf gerissen. Dem Belgier mit der Glatze trauten viele den Gesamtsieg zu, noch vor dem jungen Franzosen Bernhard Hinault. Das war 1978. Wie in jedem Jahr übernachteten einige Fahrer im Hotel Castillan. Juliens Eltern hatten die Betten bezogen, das Essen vorbereitet. Die Masseure erwarteten die Radfahrerwaden. Dann musste Pollentier zur Dopingkontrolle.
Urinproben gehörten in diesen Tagen schon zum Tour-Alltag. Elf Jahre zuvor war der gedopte Tom Simpson tot vom Fahrrad gefallen. Abgekämpft ging Pollentier von der Ziellinie zum Kontrollwagen. Unter der Achsel versteckte er eine Plastikflasche. Doch bevor der Fremdurin in den Becher lief, entdeckten die Kontrolleure den Betrug. Der Sieger wurde disqualifiziert und ging zurück auf sein Zimmer im Hotel Castillan.
Juliens Mutter stand gerade an der Rezeption, als der erste Journalist hinterhergelaufen kam. Julien lag im Kinderbett im Nebenzimmer. Bald drängten sich Hunderte Reporter mit ihren Fotoapparaten und Fernsehkameras vor Zimmer 32. Die Schlange reichte bis hinunter zur Straße. Juliens Vater stand in der Küche und versuchte, alle zu versorgen. Irgendwann gab es nur noch Spiegeleier. In der Nacht verschwand Pollentier durch den Hinterausgang. »Wenn ich einmal sterbe, wird nur von dieser Urinprobe in L’Alpe d’Huez gesprochen werden«, sagte er später.
Seit einem halben Jahrhundert übernachten Fahrer wie Michel Pollentier bei Familie Castillan. Wenn sie anreisen, herrscht Ausnahmezustand. Jedes Familienmitglied muss mit anpacken. Spricht Julien mit seinen Eltern über die vergangenen Jahre, geht es um erschöpfte Fahrer, die sein Vater aufs Zimmer schleppte. Oder um Gäste aus den USA, die so lange die Dorfstraße bemalten, bis kein Grau mehr zu sehen war.
Angefangen hat alles 1951. Damals saßen die Hoteliers in L’Alpe d’Huez zusammen. Sie suchten in ihrem Wintersportort eine Geschäftsidee für den Sommer. Die Tour de France war seit Jahrzehnten ein Zuschauermagnet und so lockten die Geschäftsmänner aus L’Alpe d’Huez die Organisatoren in ihr Dorf. Nachdem die Männer aus Paris wieder weg waren, stellten sie eine Bedingung: Zwei Millionen Francs, dann kommt die Tour den Berg hinauf. Die Hoteliers wollten nicht zahlen, sie luden lieber alle Fahrer und Verantwortlichen ein, nach der Etappe für einen Ruhetag im Dorf zu bleiben, ohne Kosten. Ein Jahr später erreichten die Radrennfahrer erstmals L’Alpe d’Huez. Drei Jahre später baute Juliens Großvater das Hotel Castillan.
In diesem Sommer führt die Tour zum 100. Mal durch Frankreich. Trotz Dopings: Das Rennen ist nach der Weltmeisterschaft im Fußball und den Olympischen Spielen das drittgrößte Sportereignis der Welt – mehrere hundert Millionen TV-Zuschauer in 190 Ländern. Auf der 18. Etappe müssen die Fahrer am Donnerstag erstmals zwei Mal hinauf nach L’Alpe d’Huez, hoch, runter, wieder hoch.
Julien hat den Berg nur einmal in seinem Leben mit dem Rad geschafft, als Jugendlicher, in zwei Stunden und 15 Minuten. Seine Freundin war stolz. Bis sie von Marco Pantani erfuhr. Der Italiener war die Strecke 1997 in Bestzeit hochgeflogen, 37 Minuten und 35 Sekunden, in etwa so schnell wie der örtliche Bus.
Als Kind bewunderte Julien die Fahrer. Einer seiner Helden war Pascal Simon. Der war sechs Tage mit gebrochener Schulter im Gelben Trikot gefahren, bis er in L’Alpe d’Huez weinend aufgab. Jedes Jahr, wenn die Profis sich die 21 Serpentinen den Berg hoch quälten, schlich sich Julien mit seinen Schulfreunden über den Zaun am Ende der Straße. Sie kletterten auf das Dach des Nachbarhauses und sahen, wie Bernhard Hinault und Greg LeMond Hand in Hand über die Ziellinie rollten. Der spätere Gesamtsieger LeMond gönnte 1986 seinem Teamkollegen den Etappenerfolg, Hinault wurde endgültig zur französischen Sportlegende
Von LeMond, dem ersten Nichteuropäer, der die Tour gewann, bekam Julien damals ein Autogramm. Jetzt steht er auf der Terrasse des Hotels. Vor ihm die Dorfstraße. Er sagt: »Helden kommen, Helden gehen. Das Rennen bleibt, immer.« Von seinem Vater übernimmt er in diesen Wochen die Hotelleitung. Den Lachs, den die Fahrer des spanischen Teams Movistar zum Abendessen wollen, hat er schon bestellt.
In wenigen Tagen ist es wieder so weit. Vor dem Hotel haben einige Fans bereits Anfeuerungssprüche auf den Asphalt gemalt. Ihre Helden werden sich quälen. Wenn sie vorbeisausen, wird Julien hinter der Bar stehen. Es wird viel zu tun sein. Adrian muss dann zur Tante.
Dieser Text ist das erste Kapitel in der Multimedia-Reportage von ZEIT ONLINE anlässlich 100 Jahren Tour de France. Das größte Radrennen der Welt ist Geschäft, Spektakel, Doping. Wie die Tour de France drei Menschenleben lenkt, versuchen die Reportagen, Videos, Fotos und Multimediaelemente zu erklären. Bei dem aufwändigen Projekt war ich Kapitel-Autor und für Konzeption und Umsetzung des gesamten redaktionellen Teils verantwortlich.