Lothar Herzog kümmerte sich als persönlicher Kellner zwölf Jahre um den Staatsratsvorsitzenden der DDR. Heute trägt er in der Karl-Marx-Allee Gratiszeitungen aus. Ein Rundgang mit 1.380 Exemplaren
Anfang der Neunziger, als die Mauer gefallen war, erhob sich Lothar Herzog von der Couch. Er guckte seine Frau an und verkündete, einen Seat Ibiza wie in der Glücksrad-Sendung zu kaufen. Ein paar Tage später war das erste Westauto da.
Mittlerweile fährt er seinen sechsten Seat, neues Modell, mit vollem Kofferraum in eine Seitenstraße der Karl-Marx-Allee. Der Rentner macht das jeden Mittwoch: holt die Zeitungen ab, fährt mit ihnen zur Sammelstelle der Zeitungsverteiler, stapelt die Bündel aus dem Kofferraum in einen Ziehwagen und läuft los.
Als es die DDR noch gab, arbeitete Lothar Herzog mehr als zwei Jahrzehnte in der Zentrale der SED, die meiste Zeit als Personenschützer und persönlicher Kellner des Staatsratsvorsitzenden. Mit Erich Honecker reiste er zu Staatsbesuchen in mehr als 30 Länder. Jetzt verteilt er Gratiszeitungen, damit er unter Leute kommt.
An diesem Mittwochmorgen zieht er seinen Zeitungswagen in Jeans und T-Shirt, frisch rasiert. Der Asphalt ist mit Regentropfen befleckt, über den Dächern steht ein blasser Regenbogen. Er ist seit sechs wach, seit kurz nach acht auf den Beinen. Dazwischen lag er schlaflos neben seiner Frau, wie fast jeden Morgen. Lothar Herzog ist 70 Jahre alt. Er würde 20 Jahre jünger aussehen, wenn unter seinen Augen nicht diese Ringe wären.
10:32 Uhr, nach ein paar Metern überquert er am U-Bahnhof Weberwiese die Karl-Marx-Allee, vor ihm ein Hauseingang, neben ihm der Rosengarten. Hier begann am Vorabend des 17. Juni 1953 der Volksaufstand in der DDR. Vier Jahre war die kommunistische Diktatur da alt. Vielleicht wäre ihre Geschichte eine andere geworden, wenn damals nicht 600 sowjetische Panzer den Protest der Arbeiter erdrückt hätten. Vielleicht wäre Lothar Herzog dann nicht einer der besten Kellnerlehrlinge im Chemnitzer Hof geworden. Vielleicht hätte er dann nicht im Nordosten von Berlin, in der Wohnsiedlung des Zentralkomitees der DDR, Langnese-Honig zum Frühstück serviert.
Wenn er morgens wach im Bett liegt, denkt er manchmal an so was, oder an die Silvesternächte, in denen er mit Honecker auf ein neues sozialistisches Jahr anstieß.
Ein Diener der Mächtigen
11:04 Uhr, er verschwindet mit zwölf Zeitungen in einem Hauseingang in der Richard-Sorge-Straße, benannt nach dem Spion, der für Stalin arbeitete. Schon bevor Lothar Herzog diese Tür aufschloss, wusste er, wie viele Briefkästen ihn mit »Bitte-keine-Werbung«-Aufkleber erwarten. Seine Zeitungsrunde dreht er seit Jahren. Jetzt summt er zur Musik, zwei Etagen über ihm spielt jemand hinterm offenen Fenster Klavier.
Ein paar Meter weiter hat eine Schneiderin ihr Geschäft »manisch kreativ« genannt. An der Straßenecke sitzt ein Ägypter in seinem Gewürzladen. Gegenüber frittiert Ben Pommes. Ben kommt aus Amsterdam und hat die Klo-Wände seines Imbissrestaurants knallrot gestrichen. Mittags bietet er Loungemusik zu Hamburgern mit »handgeformtem Neuland-Rindfleisch« an, und Lothar Herzog, der auf seinem Zeitungsweg hier manchmal eine Pinkelpause macht, sagt, der Laden werde immer beliebter.
»Berlin, der Schutthaufen bei Potsdam«, schrieb Bertolt Brecht nach dem zweiten Weltkrieg über diese Gegend. Lothar Herzog war da noch ein Kleinkind, die Stalinallee nur eine Idee. Ein paar Jahre später entstand sie als sowjetisches Wunschbild für das »Nationale Aufbauprogramm Berlins«. Später rannten Bürger protestierend oder demonstrierend über sie hinweg und Politiker änderten ihren Namen. Nach der Wiedervereinigung war sie als Karl-Marx-Allee für viele bloß eine sechsspurige Ausfallstraße. Mittlerweile gehört Friedrichshain, der Stadtteil Berlins, den sie durchkreuzt, zu den In-Bezirken der Hauptstadt. Einmal im Jahr, wenn die Allee zur weltgrößten Biermeile wird, stoßen 800.000 Touristen auf ihr an.
Um 13:22 Uhr steht Lothar Herzog in seinem Lieblingshaus: vierundfünfzig Briefkästen, mehr gibt es auf seiner Strecke pro Haustür nicht, danach ist der Ziehwagen fast leer. Mit der linken Hand hält er einen Zeitungsstapel hoch, wie ein Tablett. Mit der rechten faltet und steckt er jede Ausgabe – klack, klack, sorgfältig und schnell. Insgesamt verteilt er 1.380 gebündelte Exemplare. Pro Stück eineinhalb Cent. Pro Stunde weniger als fünf Euro.
Er sagt, er habe es sein Leben lang gern gearbeitet. Mehr als 400 Mal reiste er mit den Politikern allein in die Sowjetunion. In Moskau besuchte er den Russischen Staatszirkus. In Japan fuhr er mit dem Schnellzug von Tokio nach Osaka. In Ägypten blickte er über den gerade erbauten Assuan-Staudamm. Vor Kuba angelte er auf Fidel Castros Privatinsel. Und als Helmut Schmidt sich mit Erich Honecker in dessen Jagdschloss Hubertusstock traf, servierte er Kartoffelsuppe.
Dann noch Breschnew, Ceaușescu und der Kaiser aus Japan. Wenn er über die Politiker der Weltgeschichte spricht, redet er über Biersorten, Flugzeugtypen oder Hoteltapeten. Kaffee und Kuchen waren ihm immer näher als die Politiker, die er dazu bediente. Wie jeder DDR-Beamte war Lothar Herzog SED-Mitglied. Von seinem Berufsleben erzählen durfte er nicht. Die Stasi hörte auch seine Telefonate ab.
An einer Laterne vor seinem Lieblingshaus hängt noch das Wahlplakat der Linkspartei. Es wirbt für eine »Millionärssteuer«. Darunter ein Schild der CDU: »Sichere Arbeit«. Lothar Herzog geht daran vorbei. Beide Parteien habe er nie gewählt, sagt er. Steinbrück sei ihm in der Vorwahlzeit zu arrogant gewesen, Merkel naja, wirkt fast so unnahbar wie Honecker. Danach stoppt der Zeitungswagen für einen Augenblick. Lothar Herzog hat das eben einfach so gesagt, ohne zu zögern. Das sei damals nicht möglich gewesen.
14:54 Uhr, er schiebt den Zeitungswagen zurück in die Sammelstelle und steigt langsam in seinen Ibiza. Das letzte Exemplar hat wie jede Woche die Friseurin in der Auerstraße bekommen. Sie hat das Blatt wie jede Woche neben die bunten Gratisbonbons für ihre Kunden gelegt. Für Lothar Herzog und seine Frau ist keine Zeitung übergeblieben.
Auf dem kurzen Weg zurück zur Wohnung erzählt er von seinem ersten Trabant. Zehn Jahre musste er darauf warten. Als das Auto da war, nannten seine Kinder es »blaues Wunder«, wegen der Farbe. Ein paar Jahre später hieß es nur noch »geschecktes Wunder«, wegen der Ersatzteile.
Lothar Herzog parkt rückwärts vor seiner Wohnung ein und geht hoch auf die Couch.
(Erschienen als 2. Kapitel im Spezial von ZEIT ONLINE über die Karl-Marx-Allee in Berlin)